Bahn Manager Publication

20.06.2020

Kat

Christiane Bausback

Managing Director

Die Pandemie zeigt: moderne Züge erfordern einen neuen „state of the art“

 

Ein Bäumchen-Wechsel-Dich? Nicht nur Zugsitze müssen auf den probaten Corona-Sicherheitsabstand eingestellt werden.

 

 

Verständnis und Empathie für Menschen standen schon immer im Mittelpunkt der Gestaltung. Der Virus hat uns mit unseren körperlichen und mentalen Bedürfnissen konfrontiert, das löste einen enormen Wertewandel aus. Diesen gilt es erst einmal zu erkennen und zu verstehen. Formal und inhaltlich eher wenig aufregende Bereiche wie Gesundheitsfürsorge, Logistik und Ernährung sind plötzlich ins Rampenlicht gerückt. Alles wurde auf den Kopf gestellt. Gestaltung kann dazu beitragen, das neu zu bewerten, was jetzt für die Menschen relevant und bedeutsam geworden ist — um eine menschlichere Zukunft auch im Bahnbereich zu sichern.

 

In aktuellen Verkehrssystemen hat sich im Lauf von Jahrzehnten sukzessive ein gewisser „State of the Art“ manifestiert, der aufgrund der vielseits gewünschten Kosteneffizienz (Preisminimierung pro Sitzplatz) beziehungsweise als Schnittmenge der Anforderungen verschiedenster Betreiber gewachsen ist. Früher wurde im Fernverkehr eine Anzahl von Einzelwagen zu lokbespannten Zügen zusammengestellt. Heutige Triebzüge sind funktionale Einheiten, die in der Regel weder vergrößert noch verkleinert werden können. Deren Fassungsvolumen wird bei der Bestellung definiert und bei der Produktion eingefroren — bei erhöhtem Fahrgastvolumen muss man entweder die Taktzeiten erhöhen oder zwei Züge kuppeln.

 

Im Interieur werden meist bei öffentlichen Ausschreibungen durch die Vorgabe einer Sitzanordnung 2+2 beziehungsweise 2+1 und des Sitzrasters die Auslastung pro Wagen sowie die verbleibende Gangbreite derart stark vorgegeben, dass den Zugherstellern und uns Gestaltern nur ein sehr geringer Spielraum für das Interior Design übrigbleibt. Im Normalbetrieb stellen die Passagiere fest, dass es immer enger wird und die Anzahl der Reisenden pro Wagen ansteigt. Attraktivität und wünschenswerte Auswahlmöglichkeit unter verschiedenen Bereichen im Zug — das sogenannte Zoning (Ruhebereich/ Arbeitsbereich/ Abteilbereich/ Familienbereich et cetera) können dieses Manko nicht völlig aufwiegen. Derartig unterschiedliche Zonen werden heute oft nur durch die Kennzeichnung ansonsten baugleich möblierter Bereiche erzeugt.

 

Passenger Experience und die Entwicklung von Innovation gehen meist zu Lasten von kostengetriebenen Lastenheften und haben oft kaum Überlebenschancen. Jetzt könnten genau diese Faktoren wieder einen anderen Stellenwert im gesamten Entwicklungsprozess erhalten und den erforderlichen Mehrwert generieren. Dabei beschränkt sich Gestaltung nicht nur auf Oberflächen wie Ästhetik, Formen und Funktionen. Es geht vielmehr darum, Freiräume zu identifizieren und Wege zu finden, Innovation voranzutreiben und Veränderung zu beschleunigen.

 

Stattdessen generiert die aktuelle Corona-Pandemie frappierende Bilder. Da fahren 200 Meter lange Züge — für mehr als 400 Personen ausgelegt — mit gerade mal 20 bis 30 Personen durch die Republik. Oder 40 Meter lange Trams haben in Großstädten wie München oder Berlin übersichtliche fünf bis zehn Personen an Bord. Statt angestrebter Kosteneffizienz der Fahrzeuge und der Minimierung der Kosten pro Sitzplatz können die Betreiber so gut wie überhaupt nicht auf diese Situation reagieren. Die aktuelle Krise ruft stattdessen nach kleineren Fahrzeugen, die je nach Bedarf einzeln für wenige Fahrgäste beziehungsweise im Schwarm oder enger getaktet bei steigendem Bedarf fahren können.

 

Auch zeigt die aktuelle Lage, dass es den Betreibern einige Kreativität abverlangt, einen derart flächendeckend möblierten Innenraum von Zügen, U-Bahnen oder Straßenbahnen nur noch schachbrettartig für die Nutzung bereitzustellen, um die vom Gesetzgeber vorgegebenen Mindestabstände einzuhalten. Auf Seiten der Fahrgäste sieht es im Falle von Pandemien nicht gerade besser aus. Sie müssen kreativ nach einem sicheren Platz im Fahrzeug suchen oder steigen auf Privatfahrzeuge um und sitzen perfekt geschützt stundenlang im Stau — keine wirkliche Alternative. Ähnlich wie an den Kassen von Supermärkten gilt es auch in Bussen und Straßenbahnen, die Fahrer vor Ansteckung durch Fahrgäste zu schützen — worauf viele heutige Fahrzeuge natürlich nicht vorbereitet sind — auch hier ein enormes Entwicklungspotenzial.

 

Bei kreativen Prozessen im User Research und Design Thinking ist es üblich, mit „Pains + Gains“ zu arbeiten: Jeder negativen Erfahrung steht eine positive Entwicklungsmöglichkeit gegenüber, die es zu nutzen gilt, um einen spürbaren Mehrwert zu generieren. Für die Zukunft sollte ein derartiges Verkehrssystem für die spezielle Situation einer Pandemie verschiedene Lösungsansätze anbieten, die teils in Form von Zusatzmodulen im Depot bereitstehen, teils aber auch durch das einfache Umlegen eines Schalters aktiviert werden könnten.

 

 

Wir müssen kreative Methoden und Werkzeuge nutzen, um über den Tellerrand zu schauen und unerforschte Möglichkeiten zu erforschen
„Think Big“.

 

Solche Methoden ermöglichen es, Chancen zu erkennen und für Veränderungen offen zu sein. Wir können jetzt nach den Sternen greifen und das Unmögliche möglich machen. Wir müssen das Vertrauen wiedergewinnen und einen Rahmen für Sicherheit bieten.

 

Daher muss bei Verkehrssystemen der Zukunft mehr Wert auf Privatsphäre und Abschirmung gelegt werden, auf selbstreinigende und antibakterielle Oberflächen oder gar die weitgehend berührungslose Nutzung in Kombination mit einem automatischen Selbstreinigungs-Prozess nach jedem Fahrgast (zum Beispiel bei WC-Zellen). Auch muss mehr darüber nachgedacht werden, wie man durch die clevere Anordnung von Sitzen, durch den geschickten Einsatz von Trennelementen, aber auch durch die intuitiv erkennbare Kennzeichnung verfügbarer beziehungsweise gesperrter Sitz- oder Stehplätze dem Fahrgast den Aufenthalt so angenehm wie nur möglich machen kann. Wenn der Betreiber zudem in die Lage versetzt wird, auch das Fassungsvolumen der Fahrzeuge an die reduzierte Nachfrage anzupassen, können alle Stakeholder bei der Entwicklung innovativer Fahrzeuge profitieren — auch diejenigen OEMs, die solch innovative Antworten auf derartig neue Anforderungen von Betreibern und Fahrgästen bereithalten.

 

Diese Flexibilität hilft auch im normalen Tagesgeschäft. „Mitdenkende“ Verkehrssysteme lassen den Verkehrsbetrieb besser auf aktuelle Situationen reagieren — sei dies eine Pandemie mit all ihren Auswirkungen, eine Großveranstaltung wie das Münchner Oktoberfest oder im ganz normalen Betreiber-Alltag der Wechsel von der Rush Hour zur zwischenzeitlichen Flaute in der Nachfrage. Wie so oft bietet die Krise auch eine Chance.

 

 

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